Hintergrund

Jüdisches Leben in Leipzig

Die Spuren jüdischen Lebens in Leipzig lassen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Lange Zeit bestimmten gesellschaftliche Separierung, Vertreibungen sowie staatliche und wirtschaftliche Restriktionen den Alltag der jüdischen Bevölkerung. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts war es Jüdinnen und Juden erlaubt, sich dauerhaft in Leipzig niederzulassen und eine Gemeinde zu gründen.

Von da an entwickelte sich ein vielfältiges und reichhaltiges jüdisches Leben in Leipzig. So gab es in den 1920er Jahren weit über einhundert jüdische Stiftungen und Vereine sowie 17 Synagogen und Bethäuser. Im Jahr 1925 gehörten der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, einst die sechstgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland, 12.594 Menschen an.

Diese Entwicklung endete mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Nur 24 Jüdinnen und Juden überlebten den Holocaust in Leipzig. Die Lücke, die die Vertreibung und Ermordung als jüdisch verfolgter Menschen in der deutschen Gesellschaft hinterlassen hat, wirkt noch bis heute fort.


Familie Reiter und Lotrowsky

Die Josephstraße 7 ist eine solche Lücke. Hier stand früher ein Haus, das einst im Besitz einer jüdischen Familie war und von einer weiteren jüdischen Familie bewohnt wurde. Namentlich lebten und arbeiteten in der Josephstraße 7 die Familien Reiter und Lotrowsky.

Der spätere Eigentümer Isidor Reiter betrieb hier ein Gewerbe. Am 28. Oktober 1938 wurde er mit seinen Kindern Amalia und Leopold während der „Polenaktion“ an die polnische Grenze deportiert. Während Amalia sich noch mit einem Visum in die USA retten konnte, wurden ihr Bruder und ihr Vater unter unbekannten Umständen ermordet. Den übrigen Kindern der Reiters, Regina und Maximilian, gelang noch in den vorangegangenen Jahren die Ausreise in das britische Mandatsgebiet Palästina.

Von den einstigen Mietern, der Familie Lotrowsky, entkamen der Vater Aisik und die Kinder Adolf und Anna durch die Flucht nach Südamerika der nationalsozialistischen Verfolgung. Der jüngste Sohn, Josef Benjamin, wurde im September 1939 inhaftiert und im Juni 1940 im KZ Sachsenhausen ermordet. Die Mutter, Ida Jetty Lotrowsky, wurde am 21. Januar 1942 nach Riga deportiert und später im KZ Stutthof ermordet. Heute findet sich kaum noch eine Spur vom Leben der beiden Familien in Leipzig.


Enteignung und blinde Bürokratie

Das Haus in der Josephstraße 7 wurde 1938 im Zuge der sogenannten „Polenaktion“ enteignet. Nach 1945 blieb das Gebäude verstaatlicht und verfiel zusehends. 1991 fand die Stadt Leipzig in der Tochter von Isidor Reiter – Amalia Schinagel – dann eine Erbin der Josephstraße 7. Sie war fast 90 Jahre alt und lebte in New York. Zusammen mit ihren beiden Neffen nahm sie das mittlerweile unbewohnbare Haus zurück. Sie selbst hatte kein Interesse, nach Deutschland zurückzukehren und niemand wollte das Haus in der Josephstraße 7 kaufen. Schließlich verlangte die Stadt Leipzig Grundsteuern von ihr.

In einem Brief wandte sich Amalia Schinagel 1998 an das Leipziger Stadtsteueramt. Darin schreibt sie, dass sie nicht einsehe, Geld für ein Haus zu bezahlen, das ihr erst gestohlen und dann in einem unbrauchbaren Zustand zurückgegeben wurde. Im Jahr 2006 ließ die Stadt Leipzig das baufällige Haus abreißen und leitete 2009 ein Zwangsversteigerungsverfahren zu Gunsten der Stadt ein.


Entstehung des Gedenkortes

In der Zwischenzeit bekamen einige Bürger:innen aus der Nachbarschaft der Josephstraße 7 den Brief von Amalia Schinagel in die Hände und fanden, dass die Geschichte des Hauses und der beiden Familien erzählt werden muss. Es gründete sich ein Initiativkreis, der 2011 die Aussetzung der Zwangsversteigerung erreichte. In der Folge entstand ein Verein, der im September 2012 einen vorläufigen Gedenkort auf dem Grundstück eröffnete.

Der Gedenkort bietet die Möglichkeit, die vertriebenen und ermordeten Leipziger Jüdinnen und Juden aus dem Vergessen zurück in die Öffentlichkeit des Stadtbildes zu holen. Daneben braucht es für eine lebendige Erinnerungskultur die alltägliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus – in der Stadt, der Nachbarschaft, der eigenen Familie. Hierbei kann der Gedenkort neue Impulse abseits des institutionellen Gedenkens liefern.

Weitere Informationen zum Gedenkort Josephstraße 7 unter: https://www.gedenkort-josephstrasse.org/der-gedenkort.


Dokumentarfilm und Bildungsmaterial

Da die Zukunft des Gedenkortes ungewiss ist, wollten wir die Geschichte der Josephstraße 7 und das damit verbundene Schicksal der Familien Reiter und Lotrowsky dokumentieren und für pädagogische Zwecke aufbereiten. Dabei ist der Dokumentarfilm „Sie bringen mich weg. Ich weiß nicht wohin.“ samt begleitendem Bildungsmaterial entstanden.

Ziel des Projekts war es zum einen, die nationalsozialistische Verfolgungspraxis im lokalen Umfeld zu verorten sowie am Beispiel der Familien Reiter und Lotrowsky aufzuzeigen, welche Auswirkungen diese auf das individuelle Leben der betroffenen Menschen hatte. Zum anderen sollte anhand der Geschichte der Josephstraße 7 die deutsche Entschädigungspolitik kritisch betrachtet sowie die Erinnerung an die NS-Verbrechen und der heutige Umgang damit thematisiert werden.

Eine Übersicht über die im Film verwendeten Dokumente und Bilder können der folgenden Auflistung entnommen werden: Quellenverzeichnis.